"Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verfolgungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland (Christiane Kuller)
Finanzverwaltung und Judenverfolgung
Die staatlichen Finanzbehörden wirkten bei der Verfolgung und Ausplünderung der Juden im „Dritten Reich“ an entscheidender Stelle mit. Steuerliche Diskriminierung, die Erhebung hoher Sonderabgaben und die Entziehung, Verwaltung und Verwertung jüdischen Eigentums waren zentrale, von der Finanzverwaltung durchgeführte Elemente der wirtschaftlichen Beraubung der deutschen Juden. Zahlreiche antisemitische Gesetze und Verordnungen trugen die Unterschrift von Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk und Finanzstaatssekretär Fritz Reinhardt. Leitende Beamte im Reichsfinanzministerium entwickelten antijüdische Verwaltungsverfahren, und Finanzbeamte vor Ort diskriminierten jüdische Steuerpflichtige und trieben Sonderabgaben in Milliardenhöhe ein.
Vielfach gingen die Mitarbeiter der Finanzbehörden dabei strategisch vor, etwa um ihre Opfer zu kriminalisieren, die „Arisierung“ ihres Eigentums voranzutreiben oder sie in die Flucht zu treiben. Finanzbeamte sorgten dafür, dass jüdische Emigranten große Teile ihres Vermögens in Deutschland zurücklassen mussten. Während der Deportationen räumten Finanzbeamte die verlassenen Wohnungen, überführten das letzte Hab und Gut der Verschleppten in Staatsbesitz und klärten „offene“ Vermögensfragen. Was die Finanzbeamten hier taten, war ein wichtiger Beitrag zur Vernichtungspolitik: Sie tilgten die letzten Spuren des bürgerlichen Lebens der deportierten Juden aus dem Reich.
Größter Profiteur: Die Staatskasse
Größter Profiteur dieser Ausplünderung war der Staat. Bankguthaben, Wertpapiere und Immobilien wurden in den Staatsetat übernommen, Möbelstücke, Kunstwerke und Alltagsgegenstände fanden ihren Weg in Finanzdienststellen - mitunter auch in die Privathaushalte von Finanzbeamten - oder wurden verkauft, und der Erlös floss in die staatlichen Kassen. Die Mitarbeiter der Finanzbehörden befanden sich darüber hinaus in der einflussreichen Rolle von Vermittlern. Denn wenn Gegenstände aus jüdischem Besitz weiterverkauft oder auch verschenkt wurden, bestimmten die Finanzbeamten wesentlich mit, wer davon profitierte.
Gesetze und Verwaltungspraxis
Wie war es möglich, einen weitverzweigten Apparat wie die Finanzverwaltung mit zehntausenden von Mitarbeitern in die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden einzubinden? Wie arrangierte sich eine bürokratische Organisation wie die Reichsfinanzverwaltung mit den Funktionsbedingungen der NS-Verbrechenspolitik bei der Ausplünderung, Deportation und Ermordung der deutschen Juden? Kurz: Wie lassen sich Bürokratie und Verbrechen in Bezug zueinander setzen?
Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen betrachtet die Studie zum einen die Gesetze und Verordnungen zur fiskalischen Judenverfolgung. Damit sind nicht nur die im „Dritten Reich“ neu eingeführten antisemitischen Regelungen gemeint. Auch ältere Gesetze, die noch aus der Weimarer Zeit stammten und formal weitgehend unverändert weiter galten, wurden im „Dritten Reich“ systematisch rassistisch ausgelegt oder in neuem und häufig pervertiertem Kontext angewandt.
Es würde jedoch zu kurz greifen, die Rolle der staatlichen Finanzbehörden allein anhand von Gesetzen und Verordnungen zu beschreiben. Wesentliche Faktoren der Veränderung werden erst sichtbar, wenn man die Verwaltungspraxis vor Ort in die Untersuchung einbezieht.
Die Studie tut dies auf zweifache Weise: Erstens untersucht sie die Arbeitsorganisation in den Behörden. Wenn „Judenfragen“ in einer Dienststelle zusammengeführt wurden, wie beispielsweise in den „Reichsfluchtsteuerstellen“ der Finanzämter ab 1935, dann entwickelten sich schnell antijüdische Verwaltungsroutinen. Solche speziellen Dienststellen mit antisemitischer Ausrichtung gab es im Reichsfinanzministerium, in den Mittelbehörden und an der Basis der Reichsfinanzverwaltung. Die Arbeitsstäbe für „Judenfragen“ zeigen jedoch nur einen Teil der fiskalischen Verfolgungsmaßnahmen. Antisemitische Verwaltungspraxis gehörte für Finanzbeamte im „Dritten Reich“ zum Alltag, sie war nicht in spezielle Abteilungen delegiert.
In der Forschung gehört zudem der Widerspruch zwischen den bürokratischen Organisationsprinzipien und dem antibürokratischen Regierungsstil des nationalsozialistischen Regimes zu den gängigen Interpretationsmodellen. In den Finanzbehörden verbanden jedoch vielfach gerade langjährige Mitarbeiter professionelle Kompetenz mit der Bereitschaft zur Politisierung ihrer Tätigkeit und waren auf diese Weise effiziente Kooperationspartner bei der Judenverfolgung.
Finanzverwaltung als Tragpfeiler der rassistischen Diktatur
Als Fazit bleibt festzuhalten: Mit der fiskalischen Judenverfolgung war die staatliche Finanzverwaltung in doppelter Hinsicht ein Tragpfeiler der nationalsozialistischen Herrschaft. Als maßgeblicher Akteur der Judenverfolgung und als Instanz zur Überführung von „Judengut“ in die „Volksgemeinschaft“ stabilisierte sie die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft unter den Bedingungen der rassistischen Diktatur."